ZWEITZEUGEN e.V.: Zweitzeug/innen erzählen von Überlebenden des Holocaust

Gruppe von Jugendlichen steht um Karten, die auf dem Boden liegen.

ZWEITZEUGEN e.V.: Zweitzeug/innen erzählen von Überlebenden des Holocaust

Engagement des Monats April 2020

Engagementpreis NRW | Junge Ehrenamtliche des Vereins ZWEITZEUGEN haben die Geschichten von Überlebenden des Holocaust aufgespürt. Über die Beschäftigung mit den Zeitzeug/innen sind sie selbst zu Zeugen, zu »Zweitzeug/innen«, geworden – und erzählen diese Geschichten in Schulen und Bildungseinrichtungen weiter.

Die Bilder der Vergangenheit lassen ihm bis heute keine Ruhe – aber er erzählt trotzdem von ihnen! Am 9. März 1925 wurde Rolf Abrahamsohn als dritter von insgesamt vier Söhnen in Marl geboren. Er hatte eine sehr glückliche Kindheit. Er wuchs vor allem mit christlichen Freunden auf, ohne einen Unterschied zwischen Juden und Christen zu spüren. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten änderte sich dies schlagartig. Alle Familienmitglieder von Rolf Abrahamsohn kamen in KZs oder aufgrund von Krankheiten um. Selbst durchlebte er sieben verschiedene Konzentrations- und Arbeitslager und wog bei seiner Befreiung nur noch 39 kg. Dennoch wirkte er nach dem Krieg maßgeblich daran mit, das jüdische Leben im Ruhrgebiet aufzubauen, Projekte in Israel zu unterstützen und Kindern und Jugendlichen seine Geschichte zu erzählen.

Das ist eine von 37 Geschichten von Überlebenden des Holocaust. Einige der 37 sind in den letzten Jahren gestorben. Aber ihre Überlebensgeschichten sind erhalten und bleiben unvergessen. Dafür sorgt der Verein ZWEITZEUGEN e.V. (bis Juni 2020 HEIMATSUCHER e.V.) mit einem Schwerpunkt im Rheinland, Ruhrgebiet und Ost-Westfalen. Junge Ehrenamtliche des Vereins haben die Geschichten aufgespürt, in Interviews aufgenommen und in Texten und Ausstellungen festgehalten. So sind sie über die Beschäftigung mit den Zeitzeug/innen selbst zu Zeugen, zu »Zweitzeug/innen«, geworden.

Mit dem Auftrag der Überlebenden im Herzen gehen die jungen Zweitzeug/innen in Schulen, berichten bei Veranstaltungen und verbreiten die Überlebensgeschichten über Texte, Magazine, eine Wanderausstellung und einen selbst produzierten Film.

»Mich berührt und bewegt es sehr, dass ich die Geschichte der Überlebenden erfahren durfte, sie meine Freunde wurden und wir ihre Geschichten weitergeben können. Wir merken tagtäglich, wie viel wir hiermit bei Kindern und Jugendlichen erreichen können. Sie selber werden zu Zweitzeug/innen, die sich aktiv gegen Rassismus und Antisemitismus einsetzen. Das motiviert mich immer wieder aufs Neue. Gleichzeitig macht die Zusammenarbeit in unserem großen, hauptsächlich ehrenamtlichen Team viel Spaß. Uns alle bereichert das Miteinander sehr und durch dieses Engagement lernen wir konstant Neues und meistern Herausforderungen gemeinsam.« (Ruth-Anne Damm, Mitgründerin und Vorstandsmitglied)

Die Zweitzeug/innen sehen ihr Engagement nicht nur als Erinnerungsarbeit. Sie möchten andere Kinder und Jugendliche stärken gegen Antisemitismus und Rassismus. Dazu haben sie für die Bildungsarbeit das didaktische Herz-Kopf-Hand Konzept entwickelt.

  • Herz:  Geschichte wird durch Identifikation und Mitgefühl persönlich bedeutsam. Durch Erzählungen von Begegnungen mit den Überlebenden und deren Lebensgeschichten bis ins Heute, können Kinder und Jugendliche eine emotionale Nähe zu ihnen aufbauen.
  • Kopf: Die Kinder und Jugendlichen lernen und verstehen die Ausgrenzungen von damals und schlagen eine Brücke zur eigenen Lebenswelt. Sie werden unterstützt, Antisemitismus und weitere Diskriminierungsformen in der Gegenwart zu erkennen.
  • Hand: Die Kinder und Jugendlichen werden ermutigt, selbst aktiv gegen Rassismus und Vorurteile zu werden.

Nachdem der/die Engagierte von ZWEITZEUGEN e.V. eine Überlebensgeschichte erzählt hat, erhalten die Kinder und Jugendlichen die Möglichkeit selbst zu Zweitzeug*innen zu werden, in dem sie sich intensiv mit einer Überlebensgeschichte befassen. Am Ende eines Schulbesuchs können die Kinder und Jugendlichen den Überlebenden einen Brief schreiben, in dem sie ihre Gedanken und Emotionen niederschreiben.

Das ganze Engagement von ZWEITZEUGEN e.V. ist dezentral organisiert. Die zur Zeit über 100 Ehrenamtlichen sind in acht verschiedenen Teams organisiert, z.B. die Teams Bildung, Fundraising, Wissenschaft, Kommunikation, Ausstellungen etc. Alle Teams werden von einer Person, haupt- oder ehrenamtlich koordiniert. Die Teams treffen sich in der Regel ein bis zweimal pro Jahr für jeweils zwei Tage, daneben gibt es noch ein großes, gemeinsames Ehrenamtswochenende. Die meisten Absprachen laufen digital: über Videotelephonie, gemeinsam zugängliche Dateien, Mails, soziale Medien. Das bedeutet auch: die Büroarbeit erledigen alle im Homeoffice. Ab und zu werden auch mal Büroräume »geliehen«, wie z.B. beim social impact lab in Duisburg. Diese dezentrale Struktur der Zusammenarbeit und des Engagements - das Postfach des Vereins ist in Bünde bei einem der Vorstandsmitglieder, der offizielle Sitz des Vereins in Essen – ist für alle Aktiven äußerst attraktiv, denn es ermöglicht eine große Flexibilität.

ZWEITZEUGEN ist 2010, damals HEIMATSUCHER, als Studienprojekt entstanden und seit 2014 ein eingetragener Verein mit mittlerweile knapp 200 Mitgliedern. Der Verein ist ein anerkannter Träger der freien Jugendhilfe. Die Schulen und außerschulischen Bildungseinrichtungen, die besucht werden, liegen in ganz NRW  – und auch über NRW hinaus in der Bundesrepublik.

Noch eine Frage zum Schluß: woher kommt eigentlich der ursprüngliche Vereinsname »Heimatsucher«? Ruth-Anne Damm:  »HEIMATSUCHER war der Titel unserer ersten Ausstellung und ist bis heute identitätsstiftend für unseren Verein. Wir sind immer wieder auf unterschiedliche Menschen getroffen, die ihre Heimat verloren haben – im geografischen Sinne, aber auch das Gefühl von Sicherheit, Zugehörigkeit und Anerkennung. In unseren Begegnungen zeigten sie uns, wie sie aber auch die Kraft fanden, sich etwas Neues aufzubauen. Sie haben sich auf die Suche nach einer neuen Heimat begeben. Ob diese gefunden wurde bleibt trotzdem fraglich, denn der Verlust ist bei allen bis heute präsent und spürbar. Deswegen bleibt es im (alten) Titel offen.«

Kontakt und Ansprechpartnerin:
Ruth-Anne Damm
Mobil: 0160 56 12 448
E-Mail: kontakt[at]zweitzeugen.de (kontakt[at]zweitzeugen[dot]de)
Web: www.zweitzeugen.d